Jeff Talarigo : Die Perlentaucherin
Schicksal einer Ausgestoßenen
Sie ist 19 Jahre jung und kräftig. Sie gehört zur Gemeinschaft der Perlentaucherinnen in der japanischen Inlandssee. Die Arbeit ist anstrengend und mitunter gefährlich. Aber wenn sie im Wasser ist, fühlt sie sich in ihrem Element. Nach einem harten Tag erträgt sie auch den Missmut ihrer Mutter, die das Tauchen nicht als vollwertige Arbeit anerkennt, sondern als nichtsnutzigen Zeitvertreib. In ihrer Familie hat sie eigentlich schon eine negative Sonderstellung, noch bevor sie auf die rote Stelle an ihrem Unterarm aufmerksam wird, die so seltsam unempfindlich ist.
Heimlich geht sie zum Arzt. Als der ihr die Diagnose – Lepra – mitteilt und ihr verbietet, weiterhin zu tauchen, um nicht möglicherweise die Kolleginnen anzustecken, da gerät sie zunächst einmal in Panik. Sie versteckt sich ein paar Wochen lang, wird aber natürlich entdeckt und auf die Insel Nagashima gebracht, die ein einziges Leprosorium ist. Der Anklang an „Sanatorium“ täuscht: Auf Nagashima werden die Kranken nur notdürftig behandelt, in der Hauptsache geht es darum, sie von der Gesellschaft zu isolieren.
Die ehemalige Perlentaucherin muss sich – wie alle Patientinnen und Patienten – einen neuen Namen und eine neue Identität zulegen. Mit ihrer Familie hat sie fortan keinen Kontakt mehr. Aber natürlich kann keine:r der Bewohner:innen von Nagashima sein früheres Leben vergessen oder gar auslöschen. Jede:r hat eine Vorgeschichte, dennoch muss jede und jeder versuchen, einen Platz in der neuen Gemeinschaft zu finden, in die er oder sie zwangsverpflanzt wurde – in der Gemeinschaft der Leprakranken.
Hier entstehen neue Bekanntschaften und Freundschaften. Sie erleichtern es, die anfänglich menschenunwürdige Behandlung zu überstehen und die skandalösen hygienischen Verhältnisse ebenso wie die Schikanen, denen die Inselbewohner ausgesetzt sind, zu ertragen.
Obwohl bald ein Heilmittel gegen Lepra gefunden wird und die Krankheit bei Fräulein Fuji, wie sich die Perlentaucherin nun nennt, nicht weiter voranschreitet, hält man sie fünfzig Jahre lang auf Nagashima fest. In dieser Zeit ändern sich die Verhältnisse auf der Insel und auch das Verhalten der Gesellschaft gegenüber den Kranken, aber das Stigma des Ausgestoßenseins hat seine Spuren in den Seelen der Inselbewohner:innen hinterlassen.
Jeff Talarigo, in Japan lebender US-amerikanischer Autor, erzählt die Geschichte, die auf historischen Fakten basiert, sehr zurückhaltend und völlig unsentimental. Er lässt kleine Gesten und Details sprechen und beschreibt die Natur als ausdrucksstarken Spiegel der Empfindungen der Hauptperson.
Ein wenig zu kurz kommt die psychologische Entwicklung, in der ein Alterungsprozess von 50 Jahren ja seine Spuren hinterlassen müsste. Das liegt wohl daran, dass der Bericht vordergründig keinem fortlaufenden Erzählstrang folgt, sondern schlaglichtartig einzelne Erlebnisse und Begegnungen im Inselalltag hervorhebt. Diese „Erzählmethode“ hat jedoch den Vorteil, dass man als Leser:in aushält, worüber man vor lauter Empörung eigentlich schreien möchte, und gebannt weiter liest, weil sich doch so viele Aspekte der Hoffnung ergeben könnten. Auf diese Weise erhält die Geschichte aus vielen unspektakulären Mosaiksteinchen ihre anrührende Kraft und eine optimistische Tönung.
Jeff Talarigo: Die Perlentaucherin. Roman. Luchterhand Literaturverlag München 2005. 236 Seiten.
Besprechung vom September 2008