Uwe Timm : Die Entdeckung der Currywurst

Der Reiz der unerhörten Begebenheit
Die Novelle von der „Entdeckung der Currywurst“

Uwe Timm ist in diesem Monat [3/2005] 65 Jahre alt geworden. Er ist einer der renommiertesten und erfolgreichsten Schriftsteller Deutschlands. Er hat Romane, Drehbücher, auch Kinderbücher (z.B. das bekannte und auch verfilmte „Rennschwein Rudi Rüssel“) verfasst. Erst im vorvergangenen Jahr erregte sein Buch „Am Beispiel meines Bruders“ Aufsehen, in dem er sich der deutschen Kriegsvergangenheit widmet und der eigenen Familiengeschichte: eben am realen Beispiel seines 16 Jahre älteren Bruders, der sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision meldete und 1943 nach schwerer Verwundung starb.

Aber von diesem Buch will ich hier nicht berichten, sondern von einem früheren Erzählwerk Uwe Timms, keinem Roman, sondern einer Novelle.

Nach Auskunft des dtv-Lexikons ist eine Novelle eine Prosaerzählung geringeren Umfangs, die sich auf den Ausschnitt eines Lebens beschränkt, der einen Wendepunkt bringt (von Goethe in seiner berühmten Definition als „unerhörte Begebenheit“ bezeichnet). Da dieser Wendepunkt meist unerwartet kommt, zeigt die Novelle, wiederum nach dem Lexikon, „die Zufälligkeit, Schicksalslaune und Zersplitterung des Lebens in Einzelfälle als Grundzug des menschlichen Daseins“.

Das passt hervorragend als Beschreibung auf Uwe Timms Novelle; hier gibt es gleich mehrere unerhörte Begebenheiten, die auf verschlungenen Wegen zur „Entdeckung der Currywurst“ (so der Titel) führen.

Der Erzähler in Uwe Timms Novelle trägt durchaus autobiografische Züge. Er hat als Kind schon und auch später immer wieder am Hamburger Großneumarkt die unvergleichliche Currywurst an der Imbiss-Bude von Lena Brücker genossen, die von sich behauptet, die Kombination aus gestückelter Wurst, Ketchup und einer geheimnisvollen Gewürzkomposition erfunden zu haben. Der Erzähler sucht die alt gewordene, inzwischen erblindete Frau im Altersheim auf, damit sie ihm verrate, wie es zu dieser Entdeckung kam. Froh, jemanden zu haben, der ihre Geschichte hören will, lässt Lena Brücker sich locken. Sieben Nachmittage und zwei Ausflüge ins verregnete Hamburg vergehen, während derer die alte Frau „stückchenweise, das Ende hinausschiebend, in kühnen Vor- und Rückgriffen“ erzählt.

Die Geschichte nimmt ihren Ausgang in den letzten April-Tagen des Jahres 1945, also der Zeit, derer jetzt gerade in Serien und Sendungen in sämtlichen Medien so intensiv gedacht wird. Eine unerhörte Begebenheit steht gleich zu Beginn. Lena Brücker, damals um die 40, nimmt nämlich einen jungen Marinesoldaten, der nach einem kurzen Heimaturlaub zu einem Himmelfahrtskommando abgestellt werden sollte, nach einem nächtlichen Fliegeralarm mit in ihre Wohnung, und als sie ihm am nächsten Morgen anbietet, dazubleiben, da verweilt er lieber in ihren Armen, als wieder ins aussichtslose Kampfgetümmel zurückzukehren. Weil er, in ihrer Wohnung versteckt, ohne Radio und Zeitung, auf sie als einzige Informantin angewiesen ist – und weil es ihr so gut gefällt, dass jemand auf sie wartet, wenn sie abends nach ihrer Arbeit in der Kantine der Lebensmittelbehörde nach Hause kommt, verschweigt sie ihm kurzerhand die Kapitulation Hamburgs und das Kriegsende. Sie will diesen schönen Zustand, quasi außerhalb der Zeit, einfach noch ein bisschen länger genießen. Das zieht natürlich Komplikationen nach sich.

Wie es im Laufe des Nachkriegsüberlebens und im Zuge raffinierter Schwarzmarktgeschäfte am Ende tatsächlich zur „Entdeckung der Currywurst“ kommt, ist hinreißend erzählt. Kunstvoll verquickt Uwe Timm Rahmen- und Binnenhandlung, nämlich die Erzählung der über 80-Jährigen und die Ereignisse, die sie aus dem Abstand etlicher Jahrzehnte aus ihrer Erinnerung lebendig werden lässt.

Zartes Liebesverlangen, der Zauber des Ausnahmezustands, Zivilcourage und Schlitzohrigkeit spielen darin eine Rolle und vor allem der Geschmackssinn, im realen und übertragenen Sinne. Denn am Ende des Krieges, als es praktisch nichts mehr gab, musste man „aus der Erinnerung kochen“, wie Lena Brücker sich ausdrückt. Am Ende ihres Lebens, als sie von den unerhörten Begebenheiten in der Mitte ihres Lebens erzählt, tut sie eigentlich nichts anderes.

 

Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst. Novelle. zuerst 1993, vielfach neu aufgelegt. dtv TB. 192 Seiten.

Besprechung vom März 2005

Sabine Skudlik