John Irving : Witwe für ein Jahr
Vor wenigen Wochen lief der Film „The door in the floor“ in einigen Kinos an. Er basiert auf dem ersten Teil des Romans „Witwe für ein Jahr“ von John Irving, der auch das Drehbuch für die Kinoversion geschrieben hat. Wenn die Verfilmung auch durchaus gelungen ist, sie ersetzt in keiner Weise die Lektüre dieses fesselnden Romans.
Ein Roman, in dem Stoff für mindestens fünf Romane verpackt ist! Es ist die Geschichte von Ruth Cole, einer Schriftstellerin, die literarisch hoch angesehen ist und gleichzeitig eine internationale Bestsellerautorin. Die Geschichte setzt ein, als Ruth vier Jahre alt ist und sich ihre Eltern gerade „auf Probe“ getrennt haben. Ruths Vater, Ted Cole, ist ebenfalls Schriftsteller, allerdings ein mäßig begabter, der seine Karriere mit einem hochgelobten Roman begann, dann allerdings als Kinderbuchautor und -illustrator zu größerem Erfolg kam. Ted ist mit Marion verheiratet, einer „der schönsten Frauen ihrer Zeit“.
Ihre beiden Söhne sind durch einen tragischen Autounfall ums Leben gekommen, ein Trauma, das fortan das weitere Leben ihrer Eltern bestimmt, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Ruth wurde erst nach dem Tod ihrer beiden Brüder gezeugt, in guter Absicht, aber, so sieht es Marion, es war ein Fehler. Sie sieht sich nicht imstande, ihrer Tochter eine gute Mutter zu sein. Tief drinnen aber befürchtet sie, „nicht verhindern zu können, dass sie ihre Tochter liebte.“ Was, wenn Ruth etwas zustieße? „Sie wußte, daß sie es nicht noch einmal ertragen konnte, ein Kind zu verlieren.“
In diesem Sommer 1958, mit dem das Buch beginnt, engagiert Ted den 16-jährigen Eddie, der auf die gleiche Schule geht wie vormals seine Söhne. Eddie möchte Schriftsteller werden und hofft, bei Ted etwas lernen zu können. Der allerdings braucht eher einen Chauffeur, weil ihm der Führerschein wegen Trunkenheit vorübergehend entzogen wurde. Ted, ein notorischer Lebemann und Schürzenjäger, engagiert Eddie aber auch aus einem ungewissen Instinkt heraus für Marion. Eddie ist von deren trauerumflorter, weltentrückter Schönheit vom Anbeginn an hingerissen. Und Marion läßt sich darauf ein, mit diesem schüchternen Jungen, der sie tatsächlich an ihren älteren Sohn erinnert, eine Affäre zu beginnen. Am Ende dieses Sommers verlässt Marion ihren Mann, ihre Tochter und ihren jugendlichen Liebhaber und nimmt nur die zahlreichen Fotos ihrer verstorbenen Söhne mit.
Damit endet der erste Teil, der so prall voll Leben ist, dass er durchaus als abgeschlossener Roman durchgehen könnte. Deshalb hat es eine gewisse Berechtigung, dass auch der Film damit endet. Dabei geht es doch jetzt erst richtig los!
Wir lernen im zweiten Teil Ruth als selbstbewusste, erwachsene Frau und erfolgsverwöhnte Autorin kennen. Sie ist liebende und zugleich kritische Tochter ihres Vaters und sie sehnt sich nach ihrer Mutter, von der sie weder Aufenthaltsort noch Lebensumstände kennt. Auch Eddie taucht im zweiten Teil wieder auf - auch er ist Schriftsteller geworden. Er meint, sich in Ruth verlieben zu sollen, aber im Grunde ist er immer noch der ersten und einzigen großen Liebe seines Lebens, Marion, verfallen. Und während wir Leser in Ruths Leben eintauchen, sie beobachten, wie sie für einen neuen Roman recherchiert und auf die große Liebe wartet, während wir Ted beim Altwerden begleiten, während wir Eddie in seinem dauernden Schwebezustand zusehen - währenddessen zieht uns die abwesende Marion als große Leerstelle in ihren Bann. Geradezu magnetisch gewinnt der Roman aus dieser offenen Perspektive seine unwiderstehliche Anziehungskraft. Denn Marion taucht wieder auf! Wenn man das Inhaltsverzeichnis liest, dann steht da als letzte Kapitelüberschrift „Marion mit sechsunsiebzig“.
Wie gesagt, in den 762 Seiten dieses Buches ist Stoff für mehrere Romane verpackt. Aber nicht planlos und erdrückend, sondern leicht verdaulich, immer plausibel und mit leichter Hand serviert. John Irving nimmt seine Leser an der Hand, als ob er sagen wollte: „Komm mit, du lernst in diesem Buch drei Generationen einer ungewöhnlichen Familie und ihrer Freunde kennen. Es ist wahrhaftig nicht alltäglich, was diesen Personen alles widerfährt, aber ich werde dir alles erklären, dir immer sagen, wie alles zusammenhängt.“ Und wenn man sich von Irving an die Hand nehmen lässt und ihm auf die ersten Seiten folgt, dann hat es einen schon erwischt: Dann wird man nicht vorzeitig herauskommen aus dieser grandiosen Familiensaga, sondern wirklich erst am Ende, wenn alle Erzählstränge zu Ende geführt sind, jede Person das ihr zugedachte Schicksal erfahren hat und keine Fragen mehr offen sind! Dann wird man das Buch zufrieden zur Seite legen und sagen: Was für ein Roman!
John Irving: Witwe für ein Jahr. Roman. (amerik. Original 1998) Diogenes Verlag Zürich 1999. 762 Seiten
Besprechung vom November 2005