Walter Jens (Hg.) : Es begibt sich aber zu der Zeit. Texte zur Weihnachtsgeschichte
Das Weihnachtsgeschäft läuft. Die hektische Zeit ist da. Viele versuchen dennoch, ein tägliches Viertelstündchen freizuhalten von der Betriebsamkeit all dessen, was noch erledigt werden muss. Still halten, Lieder singen, Geschichten vorlesen - schön und gut. Das Angebot an Büchern für die Vorweihnachtszeit ist überwältigend. Meistens sind sie bemüht, die sattsam bekannten Klischees zu bedienen und kuschelig-vorweihnachtliche „Stimmung“ zu erzeugen. Alle Jahre wieder halten wir mühelos den Gegensatz aus zwischen persönlichen, oft kargen Weihnachtserinnerungen und dem goldbesprühten und lamettabehängten Weihnachten, das uns Werbung und Schaufensterdekorationen in immer beliebigeren Formen verkaufen wollen.
Aus der Fülle der Weihnachtsbücher sticht schon seit Jahren ein besonderes heraus. Die persönlichen Weihnachtserinnerungen stehen darin im Vordergrund, Begebenheiten, von außen gesehen oft belanglos, die ein bestimmtes Weihnachtsfest fest im Gedächtnis verankern. Weihnachtsgeschichten, die aus dem immergleichen „Alle Jahre wieder“ das Geheimnis dieses Fests aufleuchten lassen. Marie Luise Kaschnitz erzählt in diesem Band zum Beispiel von drei elfjährigen Jungen im Wirtschaftswunderdeutschland, die am Heiligen Abend aus der Tristesse ihrer Familien ausgerissen waren und ganz unverhofft „ihr Weihnachten selbst gefunden hatten - das richtige, mit dem es nie zu Ende sein kann, weil Freude und Liebe immer neu geboren werden, solange es Menschen gibt.“
Der Band „Es begibt sich aber zu der Zeit“ versammelt „Texte zur Weihnachtsgeschichte“. Herausgegeben von Walter Jens, ist es wohl nur ein Ausschnitt aus der jahrelangen Sammlertätigkeit dieses überaus belesenen Germanisten, emeritierten Rhetorikprofessors und erfolgreichen Schriftstellers. Von A wie Ilse Aichinger bis Z wie Eva Zeller sind Nacherzählungen des biblischen Berichts, Geschichten, Lieder und Gedichte alphabetisch angeordnet. Vom Mittelalter (Walther von der Vogelweide) bis in unsere Tage reicht die Entstehungszeit der hier versammelten Texte, wobei der Schwerpunkt jedoch auf dem 20. Jahrhundert liegt. Es sind hauptsächlich, aber nicht nur deutsche Dichterinnen und Dichter, die hier zu Wort kommen. Gäste aus Frankreich (z.B. Jean Anouilh), England (Oscar Wilde), Rußland (Fjodor Dostojewski) und anderen Ländern sind ebenfalls mit übersetzten Texten vertreten. Es sind auch bei weitem nicht nur anheimelnde, wärmende oder festlich stimmende Dichterworte, wie zum Beispiel das berühmte „Markt und Straßen stehn verlassen“ von Eichendorff, die hier abgedruckt sind. Weihnachtsskeptiker wie Erich Kästner („Weihnachtslied, chemisch gereinigt“) oder der Wiener Zyniker Geort Kreisler („Weihnachten bringt alles durcheinander“) kommen ebenfalls zu Wort.
Mit einem Wort: Diese Sammlung kann ich nur allerwärmstens empfehlen. Wie ein Adventskalender (aber sehr viel reichhaltiger!) öffnet sie Fenster zu immer neuen Aspekten der Vor- und Weihnachtszeit und kann so ein langjähriger Begleiter werden.
Mehr als nur eine folkoristische Beigabe sind übrigens die Übertragungen des Lukastexts ins verschiedene deutsche Mundarten, zum Beispiel in die hessische oder berlinerische, ins Plattdeutsche oder auch ins Österreichische. Da ergeben sich mitunter ganz neue Deutungen. Auf schwäbisch verkündet der Engelschor den Hirten folgende Botschaft: „D’Mensche henn bloß ihrn Herrgott ihber sich, mir brauchet koine weltliche Fihrer verähre. Uff dr Erde sollet sich älle vertraga (...) noh senn mir onserm Herrgott scho recht!“
Es begibt sich aber zu der Zeit. Texte zur Weihnachtsgeschichte. Herausgegeben von Walter Jens. (Erstveröffentl. 1988) Fischer TB 15749. 477 Seiten.
Besprechung vom Dezember 2003