Joachim Meyerhoff : Alle Toten fliegen hoch | Bd. 1: Amerika | Bd. 2: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war | Bd. 3: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Ein begnadeter Erzähler
Joachim Meyerhoff ist ein erfolgreicher Schauspieler. Autobiografische Erlebnisse inspirierten ihn zu einer sechsteiligen Theaterperformance unter dem Titel „Alle Toten fliegen hoch“, wo er als Solist aus seinem Leben erzählte, und daraus wiederum entstand ein auf vier Teile angelegter Romanzyklus, von denen drei bis jetzt [2017] als Taschenbuch erschienen sind.
Die Kritik hat diese Romane sehr gelobt und sie wurden allesamt Bestseller. Die Bezeichnung „Roman“ gibt dem Autor die Möglichkeit, seinem – ganz unverstellt autobiografischen – Material fantasievolle Ausschmückungen wachsen zu lassen, es mit den Namen nicht so genau zu nehmen und die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit einfach zu ignorieren. Von einem „Roman“ erwartet man normalerweise Formbewusstsein und gestalteten Aufbau, das findet Meyerhoff als Erzähler offenbar vernachlässigenswert, auch wenn die erzählerische Information durchaus bewusst dosiert wird. Die Lesefreude wird durch den etwas rhapsodischen Erzählstil keineswegs getrübt. Dazu sind die einzelnen Episoden viel zu unterhaltsam.
Meyerhoff ist ein begnadeter Erzähler. Er hat die Gabe, die verborgene Poesie hinter oft banal wirkenden Alltäglichkeiten sichtbar zu machen und mit einer unbeschwert kindlichen Logik überraschende Zusammenhänge herzustellen. Seine Geschichten sind oft grandios komisch, oft auch tieftraurig, ohne sentimental zu werden, immer aber berührend. Dieser Autor versteht es, sein Lesepublikum in Bann zu ziehen und seine sprachliche Originalität ist ein einziges Vergnügen.
Gegenstand seiner bisher erschienenen Romane sind seine Kindheit und Jugend, die er als jüngster Sohn des Leiters eines psychiatrischen Landeskrankenhauses im äußersten Norden Deutschlands verlebt. Dort wohnt er mit Eltern und zwei älteren Brüdern in der „Direktorenvilla“ mitten auf dem Anstaltsgelände unter mehr als tausend körperlich oder geistig zum Teil schwerstbehinderten Menschen. Der Alltag von Familie Meyerhoff ist also schon aufgrund der Wohnsituation alles andere als „normal“. Episoden dieses sehr besonderen Familienlebens, von der Einschulung bis ins Erwachsenenalter, werden in „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ erzählt. Dieser Band erschien als zweiter Romanteil.
Ein Auslandsjahr, das der 17-jährige Joachim in den USA verbringt und die Vorbereitung darauf füllt den ersten Teil („Amerika“) des Romanzyklus‘ fast vollständig aus. Nach dem Abitur verschlägt es Meyerhoff dann eher zufällig an die renommierte Otto-Falckenberg-Schauspielschule in München. Wie er dort tagtäglich auseinandergenommen wird und Zuflucht in seinem neuen Zuhause bei den Münchener Großeltern findet, das ist der Stoff für den dritten Teil („Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“). Wer diese sehr charmanten Großeltern waren, von denen man als Leser nur die Vornamen erfährt, kann man im Internet leicht herausfinden und liest mit Vergnügen, wie die beiden – er ein hochrenommierter Philosoph, sie eine bekannte Schauspielerin – ihr großbürgerliches Leben in unkonventioneller WG mit ihrem jüngsten Enkel führen.
Um eine chronologische Ordnung seines Stoffs über die einzelnen Bände hinweg ist der Autor nur am Rande bemüht. Dennoch würde ich empfehlen, die Reihenfolge des Erscheinens auch beim Lesen beizubehalten. Denn die engsten Familienmitglieder werden im Verlauf der Episoden zu guten Bekannten, deren Eigenheiten man lieben, oder zumindest zu belächeln lernt.
Obwohl Meyerhoff schonunglos auch von den Schwächen oder Schrulligkeiten seiner Großeltern, Eltern und Brüder, auch denen von Freunden und Schauspiel-Mitschülern erzählt, ist eines überdeutlich: die große, bedingungslose Liebe zu seiner Familie, zu der auch der Hund zu rechnen ist, und die aufrichtige Zuneigung zu allen Menschen, von denen er erzählt. Dieser wohltuende emotionale Raum bindet den Leser, die Leserin, mit ein. Das aufmerksame Interesse, das der Autor allen Menschen und Begebenheiten entgegenbringt, überträgt sich unweigerlich beim Lesen. So entsteht sozusagen eine unterhaltsame Spannung, und die Lektüre lohnt drei Bände lang.
„Für dich scheint alles Phänomen zu sein,“ sagt der Großvater einmal zum Enkel. „Du staunst ja über alles und sei es noch so unbedeutend.“ Auch wenn der Großvater in der Folge dieses Dialogs mehr „Teilhabe“ am Leben einfordert: Für die Leserschaft von Joachim Meyerhoff ist dieses Staunen-Können ein Geschenk!
(Band 4 wird im November 2017 erscheinen!)
Joachim Meyerhoff: Amerika (Alle Toten fliegen hoch. Bd.1. 2011).
Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Alle Toten fliegen hoch. Bd.2. 2013).
Joachim Meyerhoff: Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (Alle Toten fliegen hoch. Bd.3. 2015).
Joachim Meyerhoff: Die Zweisamkeit der Einzelgänger (Alle Toten fliegen hoch. Bd.4. 2017)
Alle Romane bei Kiepenheuer&Witsch, alle auch als KiWi-Taschenbuch und als E-Book. z.T. auch als Hörbücher, gelesen vom Autor.
Besprechung der Bände 1-3 im Juli 2017