Pascal Mercier : Nachtzug nach Lissabon

Auf der Fahrt ins Ungewisse

Der Einstieg ist furios: Raimund Gregorius, Lehrer für alte Sprachen an einem Berner Gymnasium, steigt aus seinem bisherigen Leben aus. Eine reichlich sonderbare Begegnung auf seinem täglichen Weg zur Schule ist der Auslöser.

Vom Regen durchnässt steht eine fremde Frau auf einer Brücke, liest sichtlich erregt einen Brief und Gregorius hat den Eindruck, dass er sie vor einem suizidalen Impuls bewahren muss. Als Antwort schreibt sie ihm mit Filzstift eine Telefonnummer auf die Stirn. Von nun an ist der Lehrer ein „Gezeichneter“. Nichts stimmt mehr, und in dieser verwirrten Lage wirkt das melodiöse „Português“, mit dem ihm die fremde Frau auf die Frage nach ihrer Muttersprache antwortet, wie ein Lockruf.

In der spanischen Buchhandlung erweckt ein schmales Bändchen in portugiesischer Sprache mit dem Titel „Ein Goldschmied der Worte“ seine Aufmerksamkeit. Als er das Porträtfoto des Autors sieht, ist es vollends um ihn geschehen. Hatte die Nadel seines inneren Kompass’ an diesem seltsamen Tag noch irrlichternd mal hierhin, mal dorthin ausgeschlagen, so zeigt sie ihm jetzt ganz klar die Richtung. Der Pol, der ihn ab sofort unwiderstehlich anzieht, ist die portugiesische Hauptstadt, und so findet er sich unversehens im „Nachtzug nach Lissabon“ wieder, obwohl er gar nicht genau weiß, was er dort eigentlich soll.

Der Autor des portugiesieschen Büchleins ist Amadeu Inácio de Almeida Prado, Spross eines alten Adelsgeschlechts. Und natürlich gilt ihm in der Folge Gregorius’ ganzes Streben. Freundliche Menschen in Lissabon, allesamt Bücher-Fanatiker wie er selbst, und etliche glückliche Zufälle lassen ihn schon bald die Spur des „Goldschmieds der Worte“ aufnehmen. Prado war Arzt und aktiv im Widerstand gegen die Diktatur von Salazar – aber er lebt nicht mehr. Dafür lernt Gregorius etliche Menschen aus seinem Umfeld kennen, inzwischen alle mehr oder weniger hochbetagt. Und er lernt vor allem den „Goldschmied“ sehr genau kennen, weil er sich mit der Gründlichkeit des Sprachwissenschaftlers durch dessen Buch arbeitet. Er erliegt der Sprachgewalt dieses Dichters ebenso wie der Kühnheit seiner Ideen.

Die Aufzeichnungen von Amadeu de Prado, die Gregorius sich aneignet, bilden das Herzstück des Romans. Es sind philosophische Texte, mal aphoristisch kurz, mal in längerer essayistischer Form, dann wieder knappe Erlebnisberichte. Aus ihnen formt sich nach und nach facettenhaft das Bild eines Arztes zwischen Pflichtgefühl und Leidenschaft, eines hochbegabten Denkers, der vor keiner Frage zurückschreckt und ruhelos nach Antworten sucht, eines Poeten, der einen Ausgleich in Sprache und Dichtung zu finden hofft, aber auch eines Getriebenen, dem das große Glück seines Lebens, die Liebe, die ihn „ganz“ machen würde, versagt bleibt.

So beeindruckend in ihren Aussagen und so zwingend in ihrer sprachlichen Gestalt sind die Lebensweisheiten des fiktiven Autors Prado, dass man fast den Verdacht hegen könnte, der tatsächliche Autor Pascal Mercier habe die etwas abwegige Rahmenhandlung mit dem entlaufenen Lehrer Gregorius nur erfunden, um ein Vehikel für seinen philosophischen Ansatz zu haben.

Doch die Rahmenhandlung ist – mag die Geschichte noch so unwahrscheinlich anmuten – in ihrer starken Eigendynamik ungemein faszinierend: Ist der Gedanke nicht verführerisch, eingefahrene Gleise zu verlassen, plötzlich ganz neue Sehnsüchte wahrzunehmen und einer lockenden inneren Stimme zu folgen? Natürlich könnte so etwas auch Angst machen, aber Gregorius gelingt es mehr als einmal, seine Zweifel und Befürchtungen zu überwinden.

Auf den ersten Blick ganz anders geartet als Prado, sein alter ego, zeichnen sich doch nach und nach immer mehr Gemeinsamkeiten ab: Sie reichen von krankhaften Schlafstörungen bis zur unbedingten und besessenen Liebe zum Dichterwort. Dazu kommt bei beiden eine ganz besondere „Wachheit“ (als Synonym für wirklich, mit allen Fasern intensiv gelebten Lebens immer wieder beschworen), die sich als Leitmotiv durch das ganze Buch zieht.

Und so schlägt der Roman seine Leser und Leserinnen nicht nur durch die Beschäftigung mit den allergrößten Fragen des Lebens in Bann, sondern zunehmend auch durch die Rahmenhandlung, denn als guter Kompositeur führt Mercier nur Figuren ein, die durchaus Plastizität und Eigenleben gewinnen.

Dass am Ende nicht alle Versprechen eingelöst werden, auf die der/die Leser/in im Laufe der knapp 500 Seiten ein Anrecht erworben zu haben glaubt, hat mich etwas unbefriedigt zurückgelassen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass dieses Buch zu fesseln vermag und noch lange nachhallt.

Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon. Roman. Carl Hanser Verlag München Wien 2004. 495 Seiten.

Besprechung vom Februar 2006

Sabine Skudlik