Per Olov Enquist : Ein anderes Leben
Schreiben als Rettung
Die romanhaften Erinnerungen von Per Olov Enquist
Per Olov Enquist ist ein großer Schriftsteller. Seine Bücher haben auch in Deutschland seit Jahrzehnten eine treue Lesergemeinde. Im vergangenen Frühjahr [=2009] legte Enquist, mittlerweile fünfundsiebzig Jahre alt geworden, ein autobiografisches Werk vor: „Ein anderes Leben“. Im Interview mit der SZ (30. Mai 2009) bestand Enquist allerdings darauf, dass es sich dabei nicht um eine Autobiografie handle, sondern um „eine innere Geschichte (…), kein Bekenntnisbuch, sondern ein Roman.“
Enquist, der über sich selbst in diesem Buch in der 3. Person schreibt, berichtet – „von Bildern der Erinnerung geleitet“ – über die Faktoren, die seine Selbstwahrnehmung und sein Weltbild von früh an geprägt haben. Er wächst alleine mit seiner strenggläubigen Mutter auf, einer eifrigen und frommen Pietistin, die ihren Sohn in eben diesem Sinne zu erziehen versucht. Der Vater stirbt, als der Junge erst einige Monate alt ist. Das allein ist schon schwer zu ertragen, zumal die Mutter nicht viel erzählt über den Vater, und wenn, dann eher in Andeutungen, die für das nachdenkliche Kind kaum verständlich sind und es umso mehr verwirren. Doch zudem erfährt er, dass er einen älteren Bruder hatte. Dieses Kind kam in einer Steißgeburt zur Welt, die die Mutter fast das Leben gekostet hätte, lebte nur wenige Minuten und wurde rasch getauft, und zwar auf denselben Namen wie der Erzähler selbst zwei Jahre später. Als man ihm den Sachverhalt zu erklären versucht, ist für ihn schwer zu begreifen, wer nun eigentlich wer ist. „Es kommt ihm unklar vor, ein wenig verdächtig.“
All dies sind verstörende Ereignisse, auf die sich der aufgeweckte Junge keinen Reim machen kann. Die rigide Religiosität der Mutter, die samstäglichen Bußrituale, bei denen er Sünden erfindet, um etwas zu beichten zu haben; das Bemühen, immer „lieb“ zu sein und der Mutter keinen Kummer zu machen: All das sind Muster, die ein Leben lang Einfluss behalten.
Später wird Enquist ein sportlicher Heranwachsender mit Begabung für den Hochsprung. Es reicht zwar nicht zur erträumten Olympia-Teilnahme, aber immerhin zu internationalen Wettbewerben, die ihn aus der Enge und Provinzialität des schwedischen Heimatdorfs hinausführen. Zum Studium der Literaturwissenschaft zieht er nach Uppsala. Er gewinnt Kontakt zu anderen schreibenden Studenten (u.a. Lars Gustafsson) und zu literarischen Kreisen. Er studiert weiterhin Geschichte und Politikwissenschaft. Er kann seinen ersten Roman in einem angesehenen Verlag veröffentlichen. Er heiratet. Er wird Vater. Er wird als Schriftsteller immer bekannter und erfolgreicher. Er arbeitet auch als Journalist (z.B. als offizieller Berichterstatter von den olympischen Sommerspielen in München 1972) und Theaterautor.
Und eines Tages muss er sich eingestehen, dass er alkoholabhängig ist. Er ist da sehr langsam hineingeraten. Ausgerechnet das Schreckgespenst seiner Kindertage, wo Alkoholgenuss als eine der schlimmsten Verfehlungen gebrandmarkt war, macht sich in seinem Leben breit.
Wie Enquist sich schließlich nach vielen, vielen Jahren von dieser Sucht befreit, nach Rückschlägen, nach erfolglos abgebrochenen Entziehungskuren, nach rational gut abgestützten Beschönigungen seines Zustands, das entwickelt im letzten Teil des Buchs eine ungeheure Sogwirkung. Man könnte diesen Bericht geradezu als Lehrstück über die Mechanismen der Sucht lesen: wie der Hauptbetroffene sie sich lange nicht eingesteht, wie er den Tatsachen schließlich ins Auge sieht und sie dennoch nicht wahrhaben will, wie die eigene intellektuelle Brillanz immer wieder dafür herhält, gute Gründe und Rechtfertigungen zu finden, warum es so ist, wie es ist. Und warum kein Anlass besteht, daran etwas zu ändern.
Das Geniale an diesem Erinnerungsbuch ist, wie die einzelnen Lebenslinien, ihre bestimmenden Faktoren von frühester Kindheit an, immer wieder aufscheinen, sichtbar werden in ihren Verschlingungen, die zum Höhenflug, zum Absturz und schließlich zum erneuten Triumph dieses Lebens führen. Und faszinierend ist dabei natürlich auch, lesend mitzuerleben, wie das Schreiben diesem meisterhaften Schriftsteller das Leben rettet.
Per Olov Enquist: Ein anderes Leben. Carl Hanser Verlag München 2009. (schwed. Orig. 2008) 544 Seiten.
Besprechung vom Dezember 2009