Sándor Márai : Die Gräfin von Parma
Die überfällige Wiederentdeckung eines großartigen Romanciers
Vor einigen Jahren wurde der ungarische Romancier Sándor Márai als einer der großen Literaten des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt. Sein Roman „Die Glut“ aus dem Jahr 1942 wurde erstmals ins Deutsche übersetzt und stürmte gleich die Bestseller-Listen. Seitdem hält die Márai-Begeisterung an. Mehrere seiner über 20 Romane sowie seine Lebenserinnerungen wurden neu aufgelegt. Die jüngste Veröffentlichung in dieser Reihe ist der Roman „Die Gräfin von Parma“, im Original 1940 erschienen.
Die Grundkonstellation ist dieselbe wie in „Die Glut“: Zwei Männer konkurrieren um die Liebe einer Frau. Während die weibliche Hauptperson Krisztina in „Die Glut“ jedoch zum Zeitpunkt der Handlung schon tot ist und auch in Rückblenden nur in spärlichen Zitaten auftaucht, ist die Titel gebende „Gräfin von Parma“ eine junge Frau aus Fleisch und Blut, die immerhin einen beeindruckenden Auftritt hat in der Abfolge der Szenen, die sich wie in einem Theaterstück im Gasthof „Zum Hirschen“ in Bozen abspielen.
Dort nämlich, in den schönsten Zimmern, hat sich ein Herr aus Venedig einquartiert. Ohne Gepäck, mit zerrissenen Kleidern, in Begleitung eines zweifelhaften Klosterbruders ist er aufgetaucht, kann dem Wirt keinerlei Sicherheiten bieten - und bekommt dennoch, was er will. Ein furioser Auftakt!
Erst auf Seite 36 bekommt der Held einen Namen, Giacomo, und im Nachwort stellt Márai klar klar, dass es sich um Giacomo Casanova handelt, an dessen spektakulärer Flucht aus den Bleikammern Venedigs im Jahre 1756 der Roman aufgehängt ist. Mehr aber auch nicht! Denn es geht hier nicht um die amourösen Abenteuer des Helden, sondern um seinen Charakter.
Giacomo ist einer, dem man sich nicht entziehen kann: nicht die Frauen, die ihm reihenweise erliegen; nicht der Wirt, der ihm die besten Zimmer überlässt; nicht der Wucherer, der ihm Geld vorschießt, ohne zu wissen, ob er es jemals wiedersehen wird; nicht sein venezianischer Gönner, der wider besseres Wissen zu ihm hält; nicht sein Gegenspieler, der Graf von Parma, dem alles Geld und alle Macht nichts nützen im Duell um die Liebe der schönen Francesca; und schon gar nicht die Leser/innen, die diesem Hochstapler, diesem zweifelhaften Charakter, diesem selbstverliebten Abenteurer auf Anhieb alle Sympathien schenken.
Giacomo hat keine Angst. Er ist der Inbegriff des Mannes, der an nichts und niemanden gebunden ist, der in jedem Augenblick seines Lebens das Schicksal erkennt, der sich jeder Herausforderung stellt - sehenden Auges und fühlenden Herzens. Auch alle anderen Personen des Romans treten prototypisch auf: der Wirt, der Spieler, der edle Gönner, das junge, naive Mädchen, die Marktfrauen. Sie sind keine Individuen, und wenn sie etwas tun (die Marktfrauen tratschen, der Spieler schummeln, der Barbier dienern), dann tun sie es exemplarisch, weil es in diesem Roman nur um grundsätzliche Dinge geht: um Zugehörigkeit und Freiheit, um Schicksal und Glück, um Güte und Verworfenheit, und - natürlich - um Leidenschaft und Liebe.
Márai erzählt mit großer Geste, kühn und großspurig. Er kümmert sich nicht um Details, auch nicht um Proportionen, denn er hat alle Zeit (und alle Zeilen) der Welt, wenn er darlegt, worauf es ihm ankommt. Das erinnert sehr an „Die Glut“. Dort waren die zentralen Themen Treue, Freundschaft, die Sinnhaftigkeit des Lebens. 1934, als Márai in Ungarn erste Erfolge feierte, schrieb ein zeitgenössischer Kritiker: „Womit lässt sich die wachsende Popularität dieses demonstrativ einsamen Schriftstellers erklären? Doch wohl mit der Tatsache, daß auf dem Grunde seiner Texte existentielle Fragen stehen.“
Das ist wohl auch die Antwort auf die Frage, warum Sándor Márai heute immer noch eine so große und begeisterte Leserschaft findet. Die meisten seiner Werke entstanden zwischen den beiden Weltkriegen bzw. noch während der Vierziger Jahre. Also in einer Zeit des Umbruchs, gar des Niedergangs, des Verfalls, der Heimatlosigkeit. Man könnte auf diese Verunsicherung literarisch ja auch ganz anders reagieren! So hat Márai, der in der deutschen Sprache ebenso zu Hause war wie in seiner Muttersprache, z.B. Franz Kafka als erster in Ungarn gewürdigt und ins Ungarische übersetzt.
Aber es ist, also wollte Márai geradezu mit einem Absolutheitsanspruch anschreiben gegen das Gefühl, dass die Welt im Begriff ist, aus den Fugen zu geraten. Er formuliert in einer grandiosen Sprache, und auf jeder Seite findet sich mindestens ein Satz, der es wert wäre, in Stein gemeißelt zu werden!
Sándor Márai: Die Gräfin von Parma. Roman. (orig. 1940) Piper Verlag München 2002. 242 Seiten.
Besprechung vom Februar 2003